aus der Neuen Zürcher Zeitung, 23.09.16:
NZZ-Podium Berlin debattiert über den Umgang mit Populisten
von Ricardo Tarli
«Demokratien sind keine Wertegemeinschaften.» Diese provokante Aussage machte Martin Seel, Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt, in seinem Eröffnungsreferat am jüngsten NZZ-Podium in Berlin zum Thema Wertegemeinschaft. Seel legte dar, weshalb er das Phantasma einer identitären Wertegemeinschaft oder einer Leitkultur für die Demokratien für gefährlich hält. Mit der Begründung, die Werteordnung dürfe nicht unterhöhlt werden, würde in der EU das elementare Grundrecht auf Asyl «massiv eingeschränkt», sagte Seel. Er verwies dabei auch auf Donald Trumps Wahlkampf und auf die Türkei. «In all diesen Fällen werden Werte gegen Grundrechte ausgespielt.»
Die anschliessende Diskussion entzündete sich vor allem an der Frage über den richtigen Umgang mit der AfD, der Alternative für Deutschland. Für Alexander Dobrindt, Bundesverkehrsminister der CSU, sind Werte der Kitt einer Gesellschaft. Deutschland sei ein «Hort der Stabilität», unter anderem deshalb, weil hier der Wertekonsens grösser sei als anderswo. Er widersprach Martin Seel insofern, als er anmerkte, dass «unsere Rechtsordnung aus dem Bewusstsein einer Wertegemeinschaft» entstanden sei. Sein Rezept, um der AfD Paroli bieten zu können: «Die Angst mit mehr Sicherheit bekämpfen.»
Anton Hofreiter, Vorsitzender der Bundestagsfraktion von Bündnis 90 / Die Grünen, widersprach seinem bayrischen Landsmann. «Es zählen die Werte, die im Grundgesetz normiert sind. Wir brauchen keine Leitkultur darübergestülpt.» Er warf der CSU vor, sich mit der AfD ins gleiche Bett zu legen. «Die CSU redet den Populisten nach dem Mund und treibt die Menschen so weiter in die Arme der AfD.» Diese Strategie sei in anderen Ländern, wie in Österreich oder der Schweiz, gescheitert.
Alison Smale, Korrespondentin der «New York Times» in Berlin, wies darauf hin, dass die Migration in Deutschland, im Unterschied zu den USA, rechtlich unvollständig geregelt sei. «Die Debatten, die in Deutschland darüber geführt werden, hinken den Realitäten hinterher», sagte die britische Journalistin.
In Anspielung auf die Flüchtlingsdebatte mahnte Heinrich August Winkler, einer der einflussreichsten deutschen Historiker, dass westliche Demokratien nicht mehr versprechen sollten, als sie halten könnten. Deutschland dürfe nicht in die Rolle der «Leitmoral Europas» verfallen und seine Werte anderen aufzwingen wollen. Viel wichtiger sei es stattdessen, jene zu unterstützen, die für diese Werte kämpften, beispielsweise in China.